Wir wollen nicht nur wissen, was die Mode einer jeweiligen Zeit diktiert. Wir wollen wissen, wie sich Menschen tatsächlich gestalten. Kleidung ist Ausdruck unseres Gestaltungswillens und unseres
Selbstgefühls und als solche direkt verknüpft mit sozialen Strömungen.
Die Kostümgeschichte kann uns nur soundso viel über Stil erzählen. Für vergangene Epochen sind wir auf jene Abbilder angewiesen, die uns Illustratoren hinterlassen haben. Wieweit sie geschönt,
verfälscht oder realistisch sind, wissen wir nicht. Erst ab dem 20.Jhd haben wir Fotos und Film. Das lässt uns die Wahl: wollen wir glauben, dass Filmkostüme den tatsächlichen Stil einer Zeit
widerspiegeln? Oder wollen wir glauben, was von Modefotos und Runway-Aufnahmen vorhanden ist? Wenn wir heutige Runway-Mode mit echten Menschen vergleichen, sollten wir das nicht tun, die
Diskrepanz könnte kaum größer sein.
Oder sollen wir Straßenfotos heranziehen? Das gibt uns einen besseren Blick darauf, wie Menschen wirklich aussahen. Allerdings muss man subtrahieren, dass schmale Budgets, praktische Alltags- und
Arbeitskleidung keinen guten Ausdruck einer Stilepoche darstellen.
Ich versuche jetzt einen anderen Zugang. Ich nehme ein wiederkehrendes Event, und zwar den Songcontest, um zu analysieren, wie sich Menschen wirklich stylen, die vor ein Publikum treten.
Nun gibt es keine Budgetlimitationen, aber auch kein Modediktat mehr. Im Rahmen dieses Events sehen wir, welches BILD Menschen mithilfe von Kleidung gestalten. Erkennen wir dadurch interessante
Strömungen einer Zeit?
Probieren wir es einfach. Ich nenne das mein Advent-Projekt 2018.
1957
Wenn ich mir den ganzen Songcontest von 1957 ansehe, fällt zweierlei auf. Die Damen tragen alle Abendkleider, die Männer jedoch Tagesanzüge. Seltsam.
Zweitens: Diese erwachsenen Menschen sehen alle wie Teenager aus:
Es gibt natürlich Ausnahmen, die wird es in jedem Jahr geben. Aber ich beachte im Rahmen dieses Projekts mehrheitliche Erscheinungen, die man als Trend bezeichnen kann. 1957 tragen die Jungs
Konfirmantenanzüge, die Mädels Prom-Kleider. Fast alle. Es ist, als wollte 11 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg eine ganze Generation sagen „nicht wehrdiensttauglich“. Oder „zu jung, um dabei
gewesen zu sein“. Es ist die Mode von Menschen, die neu ins Leben starten. Kein Wunder, dass unterhalb dieser Mode die echten Jugendlichen anfingen, sich ihre eigene Musik - den Rock'n Roll, den
der Songcontest komplett ignorierte - und eine eigene Jugendkultur zu bilden.
Übrigens spiegelt die Musik das ebenfalls wider: Alle schmachten ins Mikro. Weil ihr Lover sie verlassen hat, weil sie hoffen, dass das Telefon läutet oder weil sie mit dem Pony reiten wollen.
Teenager-Themen.
1962
geschieht etwas Bemerkenswertes. Die Frauen tragen immer noch alle Prom-Kleider, die Männer waren jedoch erwachsen geworden.
Das neue Establishment hat sich neu etabliert. Und die Frauen dabei zurückgelassen. Im Nachhinein betrachtet ist es wenig überraschend, dass wenige Jahre zwei Dinge passieren: die Revolution der
Jugend und die Frauenbewegung.
Der Tenor in der Musik? Alle blödeln über kindische Themen. Die Lieder sind allesamt Kinderlieder. Auch die erwachsenen Männer singen Kinderlieder. Ringa-ding-ding.
1966
ist die auffälligste neue Erscheinung die komplette Gleichschaltung fast aller Outfits und eine durchgehende Asexualisierung.
Männer tragen die gleichen Abendanzüge in Schwarz. Frauen tragen Schlauchkleider, meistens weiß(lich). Aus den Prom-Kleidern, die wenigstens Busen und Taille zeigten, wurden nun Nonnen, vielfach
mit Ärmeln. Steht hier eine sexuelle Revolution vor der Tür? Ich würde sagen: Ja.
Die Lieder sind melancholisch. Sie handeln von Nostalgie, Sehnsucht, Verlust und Nicht-Erfüllung. Ich habe noch nie bemerkt, wie traurig die Eltern der Babyboomer waren. Aber es ist verständlich,
es ist jene Generation, der man die Kindheit geraubt und als Erwachsene jede Individualität genommen hat.
1971
Yeah, endlich sind die Bilder bunt. Wir haben Farbe und die Performer hatten Freiheit von Konventionen. Wir sehen Smokings in allen Farben, junge Frauen in Hot Pants, und eine Gruppe in
Pfadfinder-Uniformen. Jetzt wird es interessant.
Denn der deutlichste und mehrheitliche Trend sieht so aus:
Religiöse Figuren. Frauenkleider, die ans Mittelalter erinnern, Männer, die wie Prediger und Priester aussehen, Ikonen und Engel. Es sind Menschen, die den harten Materialismus der 60er Jahre
hinter sich lassen und sich fragen, ob es nicht noch mehr gibt. Zwei Jahre später wird die Jesuswelle daher kommen.
Selbst, bei den Damen, die in Hot Pants stecken: Sehen Sie die Background Singer?
Da sind die Priesterinnen.
Auch in den Liedern wird’s esoterisch. Sie handeln vom Leben in Steinen und Bäumen, dem heimlichen Seelen der Dinge und der Lebens-schenkenden Welt.
1976
würden wir doch vermuten, dass wir auf dem Höhepunkt der 70er-Klischees, der Discowelle und dem Glamour der Ära reiten, oder? Weit gefehlt, das Gegenteil ist der Fall. Was wir zu sehen bekommen,
sind Eltern:
Private, unglamouröse, alltagstaugliche Kleidung, nur hie und da mit ein wenig Show-Elementen aufgepeppt. In diesen Outfits konnte man direkt von der Showbühne in die nächste Drogerie gehen, um
Seife nachzukaufen. Papas und Mamas, die trotz ihrer z.T. sehr jungen Jahre alle wie 35 aussehen. Sie singen Lieder, die erzieherische oder fürsorgende Texte in Du-Form haben und das Privatleben
besingen: „The Party is over“, „Save your kisses for me“ oder „My little World“
Um zu unterstreichen, wie deutlich dieser Trend ist, zeige ich die beiden auffälligsten Ausnahmen desselben Jahres:
Sie sehen, die Looks sind nicht einfach nur Mode. Sie sind eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Botschaft.
Merken Sie jetzt, was ich meine? Stilgeschichte und Kostümgeschichte sind zwei sehr verschiedene Paar Schuhe. Ein pures Studieren von Modeabbildungen kann Ihnen diese Einblicke nicht geben.